Factor-Investing-Theorie

Risikofaktoren sind die statistischen Variablen, die die Wertentwicklung und Volatilität eines Portfolios systematisch, dauerhaft und nicht-zufällig erklären.

 

Entwicklung vom Einfaktoren- zu Mehrfaktorenmodellen

In den 1970er und 1980er Jahren wurde als Preisbildungsmodell für den Aktienmarkt das Capital Asset Pricing Model (CAPM) verwendet, das vor allem von William F. Sharpe (Nobelpreis 1990) 1964 entwickelt wurde:

E (rp) = rf + β (rm - rf) + α + ε

Es besagt, dass die erwartete Rendite eines Wertpapierportfolios E (rp) über einem sicheren Anlagezinssatz rf hinaus von der Menge β des in Kauf genommenen Aktienmarktrisikos (rm - rf) abhängig ist. Der erwartete Wert aus unsystematischem Risiko E(α), Alpha, ist negativ und zufällig, was ebenfalls für eine statistische Ungenauigkeit ε gelte.

Das CAPM war revolutionär. Es erkannte, dass das Risiko einer einzelnen Anlage nicht darin besteht, wie sich diese Anlage in Isolation verhält (unsystematisches Risiko oder Varianz der einzelnen Anlage), sondern wie sich diese Anlage im Verhältnis zu den anderen Anlagen des gesamten Marktes bewegt (systematisches Risiko oder Kovarianz der einzelnen Anlage zum Gesamtmarkt). Ein großer Sprung vom Denken in Einzelanlagen zum Denken im Portfoliozusammenhang war getan!

Viele Studien bestritten die empirische Relevanz dieses Modells. Es erkläre nur ungefähr 60% des Risikos eines Aktienportfolios und den Rest als Anomalie. Deshalb entwickelte sich das Einfaktorenmodell CAPM 1976 über das Arbitrage Pricing Modell (APT) von Stephen Ross zu einem Mehrfaktorenmodell weiter:

Das bekannteste Preisbildungsmodell, das mehrere systematische, dauerhafte und nicht-zufällige Risikofaktoren verwendet, ist das nach deren Entwicklern in 1992, Eugene F. Fama (Nobelpreis 2013) und Kenneth R. French, benannte Fama-French-Dreifaktorenmodell. Dieses Preisbildungsmodell berücksichtigt zusätzlich zur Aktienmarktprämie, die Unternehmensgröße (Klein versus Groß) und die Unternehmensbewertung (Value versus Growth).

Mark Carhart erweiterte das Fama-French-Dreifaktorenmodell 1997 um den Risikofaktor Momentum. Nachdem dieses Vier-Faktorenmodell längere Zeit Bestand hatte, kam im Wettbewerb der akademischen Forschung durch das sog. q-Faktor-Modell durch Lu Zhang und Long Chen 2007 Bewegung. Die Preisbildungsmodelle wurden völlig neu von Seiten des Corporate Finance definiert und Portfolios durch einen Investment- und Profitabilitätsfaktor erklärt.

2012 fügten das Forscherduo Fama/French ihrem Dreifaktorenmodell die Faktoren Investment und Profitabilität nach Arbeiten von Robert Novy-Marx hinzu.

Diese modernen Mehrfaktorenmodelle erklären nun einen sehr großen Teil der Rendite- und Risikoquellen eines Portfolios.

 

Aktueller Stand der Forschung

Mittlerweile erhöhte sich die Zahl der publizierten Risikofaktoren auf über 200. Man könnte von einem Faktor-Zoo mit vielfältigen Spezies sprechen. Um zu bestimmen, welche Faktoren sinnvoll sind, schlägt die Wissenschaft folgende Anforderungskriterien vor:

Beständigkeit - für lange Zeitperioden und unterschiedlichen wirtschaftlichen Zyklen

Allgemeingültigkeit - auch in unterschiedlichen Ländern, Sektoren und Anlageklassen

Kosteneffizienz - auch nach Transaktionskosten

Robustheit - auch bei unterschiedlichen Definitionen, wie der Value-Factor: Buchwert des EK/Marktpreis oder Gewinn/ Marktpreis oder CF/Marktpreis

Sinn - bei risiko- und/oder verhaltensbasierter Erklärung und Begründung

Wir fügen ein weiteres Anforderungskriterium hinzu:

Günstige statistische Verteilung - Vermeiden von linksschiefen Renditeverteilungen (sog. "fat tails")

 

Im Folgenden fassen wir den Forschungsstand in drei verschiedenen Darstellungsformen zusammen:

1. Wovon ist die erwartete Rendite eines Wertpapierportfolios abhängig?

Die erwartete Rendite eines Portfolios ist mit einem positiven Erwartungswert abhängig vom risikolosen Zinssatz und den jeweiligen Sensitivitäten auf bestimmte Risikofaktoren (Markt, Small-Cap, relativer Preis und Profitabilität, Momentum, Duration und Bonität). Der Erwartungswert des unsystematischen Risikos, Alpha, ist negativ. Eine statistische Restgröße ist Zufall.

2. Schaubild über Risikofaktoren

Folgendes Schaubild gibt eine Übersicht über alle relevanten Risikofaktoren:

(Anmerkungen: In der Praxis berücksichtigen wir den Risikofaktor Momentum auf der Ebene jedes einzelnen Finanzinstruments und nicht als separaten Risikofaktor; der Risikofaktor CRED (Bonität) benützen wir nicht)

3. Statistische Analyse

Eine multivariate Regressionsanalyse erklärt die Varianz der erwarteten Rendite eines gemischten Wertpapierportfolios als abhängige Variable mehrerer unabhängigen Variablen. Diese unabhängigen Variablen (Faktoren) entstehen aus eine Long- und einer Shortposition:

 

E (rp) = rf + β1 (rm - rf) + β2 SMB + β3 HML + β4 RMW + β5 MOM + β6 TERM + β7 CRED + α + ε

 

E (rp) die erwartete Rendite

rf der risikofreie Zinssatz

α das unsystematische Risiko Alpha

ε eine statistische Fehlergröße

β1234567 die statistische Sensitivität des Portfolios auf die jeweiligen Risikofaktoren 1 bis 7

(rm - rf) der Risikofaktor allgemeine Aktienmarktprämie (der relativen Wertentwicklung von Aktien minus dem risikofreien Zinssatz)

SMB der Risikofaktor Unternehmensgröße (die relative Wertentwicklung von Aktien mit einer kleinen minus großer Marktkapitalisierung)

HML der Risikofaktor relativen Preis (der relativen Wertentwicklung von Aktien mit hohem minus niedrigem Buch- zu Marktwert-Verhältnis: Value minus Growth)

RMW der Risikofaktor Profitabilität (die relative Wertentwicklung von Aktien mit hohem minus niedrigem Betriebsergebnis- zu Buchwert-Verhältnis; mit Betriebsergebnis vor Abschreibungen abzüglich Zinsaufwand geteilt durch Buchwert)

MOM der Risikofaktor Momentum (die relative Wertentwicklung von Aktien mit relativ guter minus relativ schlechter Wertentwicklung innerhalb einer Anlageklasse; relative Performance)

TERM der Risikofaktor Duration (die relative Wertentwicklung von Anleihen mit langer Laufzeit minus risikofreiem Zinssatz)

CRED der Risikofaktor Bonität (Anleihen mit Schuldnern niedriger minus hoher Kreditwürdigkeit)

 

Risikofaktoren, die wir nicht empfehlen und verwenden

Die Kapitalmarktforschung begründet Risikofaktoren, die den genannten fünf Anforderungskriterien genügen, wir jedoch nicht empfehlen und verwenden.

Dies sind:

CRED der Risikofaktor Bonität (Anleihen mit Schuldner niedriger minus hoher Kreditwürdigkeit)

Short Vola der Risikofaktor Verkauf von Volatilität (Covered Call and Put Writing, Diskountzertifikate oder Aktienanleihen)

Carry der Risikofaktor aus der Differenz von Anlagen mit höherer minus niedriger erwarteter Rendite

Diese drei Risikofaktoren eignen sich für die meisten Anleger nicht, da

• sie in schlechten Zeiten, wie größeren Rückgängen des Aktienmarktes, eine hohe Korrelation mit dem Aktienmarkt aufweisen

• ein linksschiefe Renditeverteilung besitzen (stark negative Renditeausreisser)

• diese negativen Renditeausreisser häufiger als im Durchschnitt auftreten (Kurtosis, "fat tails")

• und die Renditen dieser Risikofaktoren in guten Zeiten eher niedrig sind (siehe Risikofaktor Bonität CRED im Schaubild, "collecting nickels in front of a steamroller").

 

Keine Risikofaktoren

Dividende: Die Nobelpreisträger Merton Miller und Franco Modigliani stellten 1961 in ihrer berühmten Studie "Dividend Policy, Growth and the Valuation of Shares", Journal of Business, Oktober 1961, 34(4): S. 411 - 433, fest, dass die Dividendenpolitik für die Aktienbewertung grundsätzlich irrelevant ist. Seit 55 Jahren ist dieses Theorem der Kapitalmarkforschung unbestritten.

Low Volatility (low beta): Robert Novy-Marx wies 2016 in seiner Studie "Understanding Defensive Equity" nach, dass Low Volatilität bereits mit den bekannten Risikofaktoren (Größe, Value und Profitabilität) erklärt werden kann. Denn diese Risikofaktoren schließen Small-Cap-Growth-Aktien aus, die teilweise für das Faktorphänomen Low Volatility verantwortlich seien. Deshalb sei Low Volatility kein neuer Faktor.

 

Verwenden von Risikofaktoren

In folgenden Bereichen können Risikofaktoren verwendet werden:

• Portfolioaufbau

• Portfoliostabilität

• Portfolioüberwachung

• Performanceattributionsanalyse

Beispiele:

a) Verständnisgewinn

Die Kenntnis der Korrelationen der verschiedenen Risikofaktoren schafft einen Verständnisgewinn über den Portfolioaufbau, die Portfoliostabilität und -überwachung.

Historische Korrelationen verschiedener Risikofaktoren von 1991 bis 2021

  Mkt-RF SMB HML RMW MOM RF TERM CRED
Mkt-RF 1,00 0,16 -0,33 -0,36 -0,13 -0,16 -0,22 0,69
SMB 0,16 1,00 0,21 -0,41 -0,21 -0,27 -0,11 0,37
HML -0,33 0,21 1,00 0,03 -0,34 0,17 0,02 -0,04
RMW -0,36 -0,41 0,03 1,00 -0,06 0,11 0,12 0,03
MOM -0,13 -0,21 -0,34 -0,06 1,00 0,25 0,02 -0,58
RF -0,16 -0,27 0,11 0,11 0,25 1,00 0,09 -0,22
TERM -0,22 -0,11 0,02 0,12 0,02 0,09 1,00 -0,22
CRED 0,69 0,37 -0,04 0,03 -0,58 -0,22 -0,22 1,00

Quellen: Kenneth French Data Library; Dimensional Fund Advisors; eigene Berechnungen

 

b) Entschlüsseln rechtlicher Verpackungen

Risikofaktoren helfen, rechtliche Verpackungen verschiedener Anlagen zu entschlüsseln. Als Folge verbessert sich das Verständnis über die Erfolgstreiber einer Wertentwicklung:

Unternehmensanleihen: Staatsanleihe (TERM) und short Put auf eine Einzelaktie (unsystematisches Risiko, short vola)

Private Equity: Small-Cap-Value in illiquiden Märkten mit hohen Kosten und Kredit (long Small-Cap-Value, short term und long credit)

Warren Buffet: Large-Cap-Value und Profitabilität und short term (aus Rückversicherung)

Immobilien: Immobilie als Einzelaktienrisiko (unsystematisches Risiko) und short Term mit Länderrisiko

Infrastrukturanlagen: Small-Cap-Value und Profitabilität mit Länderrisiko

Zertifikate: z.B. Diskountzertifikate oder Aktienanleihen: long term und short vola auf unsystematisches Risiko (sofern Einzelaktie)

Neuemissionen (IPOs): Small-Cap-Growth und niedrige Profitabilität

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