No. 11: Kursprognosen

von Thomas Freiberger

Alle Jahre wieder kommt die Prognose!

 

„Wir müssen es einfach akzeptieren: Wo alle versuchen, raffinierter zu sein als diejenigen, die versuchen, raffinierter zu sein als die anderen und damit als wir selbst, kann man gar nicht raffiniert genug sein, um so raffiniert zu sein, dass sich die Raffinesse auszahlt. Wir müssen, so schwer es uns fallen mag, einfach akzeptieren, dass der Markt uns wenige Chancen lässt, auch und gerade dann, wenn er zu gewaltigen, für uns nicht weiter nachvollziehbaren Sprüngen neigt.”

Prof. Dr. Klaus Schredelseker (Universität Innsbruck): Crashs, Fads und Bubbles: Rationalität und Irrationalität in Finanzmärkten, Vortrag auf dem 19. Hochschulkurs für Geld- und Bankwesen, Seefeld/Tirol, Oktober 1998

„Das Umfeld der Geldanlage und das Geschen an den Finanzmärkten ist von Zufälligkeiten geprägt, die im Einzelfall stets Raum für Glück und Pech geben. Wer darauf nach Lust und Laune setzt, kann den wissenschaftlichen Ansatz ignorieren. Selbstverständlich bieten für den Einzelfall stets Geister – der Wissenschaftler nennt sie Scharlatane – ihre hellseherischen Fähigkeiten an.“

Prof. Dr. Klaus Spremann (Universität HSG St. Gallen): Portfoliomanagement, Oldenbourg, München, 4. Auflage, S. 63, 2008

"We have long felt that the only value of stock forecasters is to make fortune-tellers look good. Even now, Charlie (Munger) and I continue to believe that short-term market forecasts are poison and should be kept locked up in a safe place, away from children and also from grown-ups who behave in the market like children."

Warren Buffett

"If I have noticed anything over these sixty years on Wall Street, it is that people do not succeed in forecasting what's going to happen to the stock market."

Benjamin Graham, Interview mit Hartman L. Butler, An Hour with Mr. Graham, 1976

“There are two kinds of investors, be they large or small: those who don’t know where the market is headed, and those who don’t know that they don’t know. Then again, there is a third type of investor… whose livelihood depends upon appearing to know.”

William Bernstein: The Intelligent Asset Allocator, McGraw-Hill, 2000

Der Jahreswechsel naht! Für viele Banken und Vermögensverwalter kommt wieder die Zeit, Prognosen über die zukünftige Wirtschaftsentwicklung und Kursentwicklung von Aktien, Zinsen und Währungen abzugeben. Ebenso sind die Zeitungen und Zeitschriften gefüllt mit Vorhersagen. Unwillkürlich denke ich bei Prognosen an einen Vortrag von Herrn Prof. Dr. Klaus Schredelseker aus dem Jahre 1998 (1). Im Folgenden finden Sie eine gekürzte Fassung.


(Beginn des Vortrags)


„1. Naturwissenschaftliche und ökonomische Prognosen

(……)

Sie überlegen sich, ob Sie am nächsten Wochenende mir Ihren Freunden eine Bergtour in den Stubaier Alpen machen sollen. Natürlich hängt Ihr Entschluss im Wesentlichen vom zu erwartenden Wetter ab. Sie selbst sind eher zuversichtlich, möchten sich aber rückversichern. Um keine Risiken einzugehen, rufen Sie beim ORF an, bei der lokalen Zeitung, beim Hüttenwirt, beim Alpenverein, beim meteorologischen Institut der Universität Innsbruck und bei einem befreundeten Bauern, der oberhalb von Neustift lebt und nicht nur die Gegend kennt wie kein anderer, sondern der auch aufgrund einer Schussverletzung jede Wetteränderung in seiner Schulter spürt.
Alle sechs Befragten äußern sich in ähnlicher Weise: sie rechnen mit einem stabilen Hochdruckgebiet über Tirol. Natürlich ist Ihnen klar, dass sich Experten wie Eingeborenen auch irren können, Sie sind aber gleichwohl jetzt überzeugt (in Kategorien der Entscheidungstheorie: ihre subjektive Wahrscheinlichkeit dafür, daß es schön werden wird, ist deutlich angestiegen). Sie packen den Rucksack, setzen sich ans Telefon und laden Ihre Freunde ein mitzukommen. Nach einer wunderschönen Tour bei herrlichem Bergwetter gehen Sie am Montag in Ihr Büro bei einem mittelständischen Tiroler Sportartikelhersteller.

Gleich am Morgen kommt der Chef und berichtet Ihnen von einem am vorangegangenen Samstag abgeschlossenen Geschäft: eine amerikanische Handelskette hat Snowboards im Wert von 10 Mio. Dollar bestellt, die in zehn Wochen geliefert werden und in zwölf Wochen bezahlt werden sollen. Er fragt Sie nach Ihrer Ansicht: „Sollen wir das Währungsrisiko absichern oder nicht?“ Wenn wir nicht absichern und der Dollar fällt, verlieren wir Geld; wenn wir andererseits absichern und der Dollar steigt, geht uns ein vielleicht ansehnlicher Währungsgewinn durch die Lappen. Der Chef erwartet bis Mittag von Ihnen eine Meinung.

Sie rufen bei der Bank Austria in Wien an, natürlich auch bei der Tiroler Sparkasse in Innsbruck, bei der Raiffeisenkasse in Wörgl, bei der Deutschen Bank in Frankfurt, dem Schweizerischen Bankverein in Basel und bei Goldman Sachs in London. Alle sechs Befragten äußern eine ähnliche Ansicht: sie erwarten in den nächsten Wochen eher ein Festerwerden des Dollar gegenüber den europäischen Währungen. Damit müssten Sie eigentlich von einer Absicherung abraten. Aber: wissen Sie wirklich etwas über den Dollar, so wie Sie zuvor etwas über das Wetter erfahren haben? Ist Ihre subjektive Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Dollar steigen wird, nun größer als sie vor Ihrer Telefonumfrage war? Manche werden sagen: Grundsätzlich ja, vielleicht nicht so deutlich ausgeprägt wie im Fall der Wetterprognose, aber ein bisschen mehr Zuversicht als zuvor habe ich jetzt schon. Schließlich waren es ja Experten, die hier ihre Meinung geäußert haben.

„Der Marktpreis ist genau der Preis, bei dem wir nicht wissen, ob er zu niedrig oder zu hoch ist, ob er in Zukunft steigen oder fallen wird!“

Natürlich wäre eine solche Einschätzung aus ökonomischer Sicht falsch! Das einzige, was Sie wirklich wissen können, ist, dass Sie die falschen Banken befragt haben. Der heutige Kurs, genauer gesagt der heutige Terminkurs des Dollar, zu dem wir heute eine Absicherung durchführen könnten, ist nämlich regelmäßig genau da, wo die eine Hälfte der Marktteilnehmer der gut begründeten Ansicht ist, er sei zu hoch und müsse fallen, und wo die andere Hälfte der Marktteilnehmer der ebenso gut begründeten Ansicht ist, er sei zu niedrig und müsse demzufolge steigen. Würde indes mehr dafür sprechen, er sei zu niedrig (d.h. man müsse mit einem Anstieg rechnen), so wäre er längst gestiegen; würde mehr dafür sprechen, er sei zu hoch (d.h. man müsse mit seinem Fallen rechnen), so wäre er längst gefallen! Da dies ein generelles Gesetz eines effizient bewertenden Marktes ist, auf dem Erwartungen bezüglich der Zukunft gehandelt werden (Devisenmärkte, Aktienmärkte, Sportwetten, Märkte für künftige Zinsen etc.), gilt, dass sich der Marktpreis als der ökonomische Ort der maximalen Verwirrung darstellt: er ist genau der Preis, bei dem wir nichts, und zwar buchstäblich nichts mehr darüber wissen können, ob er zu niedrig oder zu hoch ist, ob er in der Zukunft steigen oder fallen wird.

Der Marktpreis ist vergleichbar der Gleichgewichtssituation auf einer Apothekerwaage: er stellt sich genau dort ein, wo die Überzeugungskraft auf der linken Schale (er wird fallen) genauso hoch ist wie die Überzeugungskraft auf der rechten Schale (er wird steigen). Bei jedem anderen Preis wüssten wir, die wir natürlich zu den cleveren und gut Informierten gehören, irgendetwas (oder würden etwas ahnen); nur gerade bei diesem Preis wissen und ahnen wir, gerade weil wir gut informiert sind, gar nichts mehr! Da in unserem Beispiel alle Banken der Gruppe zuzurechnen war, die eher mit einem Anstieg des Dollars gerechnet hat, wissen wir nach der Befragung eigentlich nur, dass unsere Stichprobe verzerrt war und wir die falschen Banken konsultiert haben: hätten wir alle Banken befragt, so hätte sich höchstwahrscheinlich ein Ergebnis eingestellt, in dem sich in etwa gleich viele Experten für ein Steigen wie für ein Fallen des Dollar ausgesprochen hätten.

Über den Dollar wissen wir demnach nichts und wir können auch nichts über ihn wissen! Wir können viele Argumente anführen, warum er eher steigen wird, wir können viele Argumente dafür vorbringen, warum er eher fallen wird. Wir werden mit vielen Experten konfrontiert sein, die uns überzeugend darlegen, warum er steigen muss und wir werden aber ebenso viele Experten finden können, deren klare und gut begründete Botschaft dahin geht, dass der Dollarkurs zurückgehen muss. Wir werden viele Experten finden, die uns überzeugend darlegen, warum die einen Experten recht haben und die anderen irren, aber wir werden auch (wahrscheinlich gleich viele) Experten finden, deren gut begründete Position genau ins Gegenteil geht. Wir werden viele Experten finden, die belegen können, dass sie in der Vergangenheit bei ihren Prognosen richtig gelegen haben: bei jedweder Entwicklung wird etwa die Hälfte der Experten eine solche Aussage mit Fug und Recht machen können. Wir werden auch Experten finden, deren Prognosen in den letzten vier, fünf Jahren immer gestimmt haben, und wir werden wissen, dass es angesichts der Vielzahl von Experten immer welche geben muss (einer aus 2^4= 16 oder aus 2^5=32 Experten), bei denen dies tatsächlich auch zutrifft.

Aber wir werden nie jemanden finden, der uns davon wird überzeugen können, dass es gerade er es ist, dessen Prognose mehr über die Zukunft aussagt als die Prognose der anderen!

Wenn es einen fundamentalen Unterschied zwischen Naturwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften gibt, dann ist das dieser: Naturwissenschaften kennen keine spieltheoretischen Probleme. Das Wetter am nächsten Sonntag ist so, wie es sein wird. Es wird nicht schön, weil wir eine Bergwanderung machen wollen und es wird auch nicht stürmisch, nur um uns zu ärgern: das was Gegenstand der Prognose ist (das Wetter, ein Ölvorkommen in 1000 m Tiefe oder die Felsbeschaffenheit bei einer Tunnelbohrung) ist unabhängig vom Inhalt der Prognose (das Wetter wird schön; Öl ist keines vorhanden; das Gestein ist nicht übermäßig hart). Im Gegensatz dazu haben wir es in der Ökonomie, letztlich in den gesamten Sozialwissenschaften, mit selbstreflexiven, autopoietischen Systemen zu tun: jeder einzelne richtet seine Entscheidungen an den mutmaßlichen Entscheidungen anderer aus, wissend, dass diese dasselbe tun und wissend, dass die zukünftige Realität, hinsichtlich derer die Entscheidungen getroffen werden, eben durch diese Entscheidungen beeinflusst wird. Ökonomen sind nicht dümmer oder verfügen über weniger präzise Instrumente als Naturwissenschaftler, sie haben es nur mit einem grundlegend anderen Problem zu tun.
Wer eine Aussage darüber machen soll,

• ob er etwas, das sich unabhängig von menschlichen Entscheidungen in der Zukunft so oder so konkretisieren wird, in dieser oder in jener Weise erwartet, ist in einer wesentlich komfortableren Situation als derjenige, der eine Aussage darüber
abgeben soll, ob

• eine Prognose, die andere, grundsätzlich nicht weniger fähige Prognostiker bereits getroffen haben, nach seinem Dafürhalten eher zu optimistisch oder eher zu pessimistisch ist; der Börsenkurs ist, wie bereits Gustav Schmoller formulierte "das Destillat der Geschäftskenntnisse aller leitenden wirtschaftenden Persönlichkeiten,“ (2) und somit natürlich selbst eine Prognose; wer sich über sie stellen will, muss sich über das Urteil von anderen stellen, von denen er weiß, dass sich von diesen anderen ein jeder, zurecht oder nicht zurecht, ebenfalls den anderen gegenüber als überlegen fühlt.

Allerdings macht auch der Ökonom immer wieder realwirtschaftliche Prognosen, etwa wenn er im folgenden Sinne über die Umsatzentwicklungen in bestimmten Unternehmen oder Branchen aussagt: "Ich rechne für diejenigen Unternehmen, die stark im Bereich Biotechnologie engagiert sind, in den nächsten Jahren mit einem höheren Gewinn- und Umsatzwachstum als für Unternehmen, deren Leistungsschwerpunkt in der Stahlerzeugung liegt". Eine solche Aussage ist durchaus rational begründbar und sie wird wahrscheinlich sogar von der Mehrheit wirtschaftlich denkender Menschen geteilt (damit muss sie allerdings nicht richtig sein!).

Aber gerade, weil sie von der Mehrheit der Menschen geteilt wird, dürfte sie bereits in der Bewertung der Aktien der entsprechenden Unternehmen ihren Niederschlag gefunden haben. Einer Aussage mit dem Inhalt "Wir sollten eher Aktien von Biotechnologie-Firmen erwerben, als Aktien von Stahlproduzenten" fehlt daher jede Grundlage: aus realwirtschaftlich richtigen Prognosen folgen eben keineswegs finanzwirtschaftlich richtige Prognosen (3)! Ein guter Meteorologe wird mit einer gewissen Treffsicherheit die morgige Niederschlagsmenge vorhersagen können; er wird aber Probleme haben, eine Aussage darüber zu machen, ob diejenige Schätzung, auf die sich eine Reihe erstklassiger Meteorologen geeinigt hat, eher zu hoch oder eher zu niedrig ist. Eine Aussage über die künftige Entwicklung einer Aktie, einer Währung, eines Terminzinssatzes o.ä. ist aber genau von dieser Art.

(………)

Schlussfolgerungen:

Wir müssen es einfach akzeptieren: Wo alle versuchen, raffinierter zu sein als diejenigen, die versuchen, raffinierter zu sein als die anderen und damit als wir selbst, kann man gar nicht raffiniert genug sein, um so raffiniert zu sein, dass sich die Raffinesse auszahlt.

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