No. 22: Enteignung?

von Thomas Freiberger

Enteignung der Sparer?

Enteignung_Sparer

 

Am Dienstagmorgen des 14. Juni 2016 um 9:20h unterschritt die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen erstmals seit ihrer Einführung im Jahre 1952(1) die 0% Marke – ein historisches Ereignis. „Anlagenotstand: Sparer in der Zwickmühle“(2), „Enteignung der Sparer“(3) oder „In der Finanzwelt stimmt etwas nicht„(4) lasen wir in der Presse.

Ob diese Aussagen richtig sind, untersuchen wir für Sie unter „1. Die Datenlage: Nominale versus reale Zinsen“. Wie Anleger verfahren sollten, erfahren Sie unter „2. Die falsche Antwort auf niedrige nominale Zinsen“ und „3. Die richtige Antwort auf niedrige nominale Zinsen“.

 

1. Die Datenlage: Nominale versus reale Zinsen

Deutsche Anleger legen gerne in traditionell niedrig verzinsliche Sichteinlagen, Termingelder und Spareinlagen an:

Der Bestand an Bargeld und Bankeinlagen (Bargeld, Sicht-, Termin- und Spareinlagen) belief sich Ende des ersten Halbjahres 2019 auf 2.519,8 Mrd EUR. Das waren 40% des gesamten Geldvermögens in Höhe von 6.236,7 Mrd. EUR.(5) Somit machen Bankeinlagen einen wichtigen, aber nicht den größten Teil des Geldvermögens privater Haushalte aus. Denn vor allem Ansprüche gegenüber Versicherungen in Höhe von 2.296,7 Mrd. EUR, 37%, und zu einem geringeren Anteil Schuldverschreibungen, Fondsanteile und Aktien in Höhe von 1.386,6 Mrd. EUR, 22%, sind mindestens ebenso bedeutend.(6)

Was bekommen deutsche Sparer für ihre Bankeinlagen?

Zinssätze werden meist ohne Berücksichtigung der Geldentwertung als nominale Zinsen veröffentlicht. Dies mag ein wichtiger Grund aktueller Missverständnisse sein:

Denn die Mehrzahl der Anleger realisiert nicht den Kaufkraftverlust insbesondere nach Steuern. Die meisten Anleger orientieren sich an nominellen Zahlen, also dem reinen zahlenmäßigen Zuwachs beispielsweise auf dem Sparkonto ohne Berücksichtigung der Inflationsrate. Sie unterliegen somit einer Geldillusion.

Die Betrachtung der Nominalzinsen sei nur bedingt geeignet, um die Höhe der Vermögenseinkommen einzuschätzen, so die Deutsche Bundesbank.(7) Bei zinstragenden Anlagen sind nicht die nominalen, sondern die reale Renditen entscheidend. Deshalb ziehen wir die Inflationsrate von der nominalen Verzinsung ab. Das Ergebnis ist die reale Verzinsung.

Als Indikator der Verzinsung privater Bankeinlagen verwenden wir die von der Deutschen Bundesbank ermittelten Zinssätze für Spareinlagen.(8) Im folgenden Schaubild vergleichen wir diese nominalen Zinssätze mit der Inflationsrate für private Haushalte der jeweiligen letzten zwölf Monate für den Zeitraum Juni 1967 bis Oktober 2019.

Die reale kurzfristige Verzinsung (blaue Kurve) ergibt sich aus der nominalen Verzinsung (schwarze Kurve) abzüglich der Inflationsrate für deutsche Konsumenten (rote Kurve):

 

Quellen: Deutsche Bundesbank, Dimensional Fund Advisors, eigene Berechnungen

 

In den letzten 42 Jahre betrug die durchschnittliche jährliche nominale Verzinsung 2,69%, die Inflationsrate 2,61% und die daraus folgende reale Verzinsung 0,08%:

Reale Zinsen für Spareinlagen um die null Prozent waren der normale Zustand. Seit 1967 lag die reale Verzinsung sogar in 47% aller Monate unter 0%. Längere Perioden negativer realer Zinsen waren in den 70er und Anfang der 80er Jahren die Norm. Erst ab Mitte der 90er Jahren hellte sich das Umfeld für Inhaber kurzfristiger Spareinlagen auf; ein Umfeld, das sich erst vor kurzem änderte.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Untersuchung der Deutschen Bundesbank aus dem Jahr 2014:

„In den vergangenen Jahrzehnten waren negative Realzinsen sogar eher die Regel als die Ausnahme. Bereits vor der Finanzkrise, nämlich in den 1970er Jahren, Anfang der 1990erJahre sowie in den 2000er Jahren, erhielten Bankkunden insbesondere auf ihre Spareinlagen keine inflationsausgleichende Verzinsung. Diese Phasen realer negativer Verzinsung überwogen historisch sogar: So lag die mittlere reale Verzinsung über den gesamten Zeitraum (auch ohne Finanzkrise) sowohl bei Spareinlagen als auch bei jederzeit verfügbaren Einlagen (sogenannten Sichteinlagen) im negativen Bereich.“(9)

(Anmerkung: Selbstverständlich weicht die individuelle Inflationsrate jedes einzelnen Anlegers von den amtlich ermittelten Daten des Statistischen Bundesamtes zum Verbraucherpreisindex ab: die individuelle Inflationsrate kann niedriger oder höher als die amtliche sein. Vermutungen über eine systematisch zu niedrig ausgewiesene Inflationsrate können wir mit Daten nicht bestätigen. Gute alternative Messungen, wie die der wissenschaftlichen Initiative des „The Billion Prices Project“ an der MIT Sloan School of Management(10) in Zusammenarbeit mit PriceStats, die alternative Inflationszahlen über den Online-Handel im Internet ermitteln, deuten auf keine großen Unterschiede zwischen den amtlichen und alternativen Inflationsdaten hin.)

Niedrige reale Renditen für liquide und sichere Anlagen sind keine deutsche Besonderheit oder auf bestimmte Zeiträume beschränkt. Längere Zeiträume über verschiedene Länder hinweg bestätigen die bisherigen Feststellungen:

 

 

Kurzfristige Staatsanleihen erzielten auch in anderen bedeutenden Finanzmärkten eine reale Verzinsung, die nur unwesentlich über der Nullmarke lag. So waren die realen kurzfristigen Sätze in den USA zwischen 1900 bis 2015 bei durchschnittlich 0,8% pro Jahr.

Eine neuere Untersuchung bestätigt diese historische Erfahrung: Die reale geometrische Durchschnittsrendite von 16 Industrieländern lag zwischen 1870 bis 2015 bei 0,78% für kurzfristige und bei 1,94% für längerlaufende Staatsanleihen p.a.(11) Die Autoren dieser Studie betrachten die relativ höhere Verzinsung von Anleihen mit längerer Laufzeit Ende der 70er bis in die 2000er Jahre als historische Anomalie - die allerdings die Zinserfahrung vieler Anleger bis heute maßgeblich prägt und die öffentliche Diskussion beherrscht.

Die Daten zur traditionell am niedrigsten verzinslichen Anlageklasse deutscher Anleger, der Bankeinlagen, zeigen keine „Enteignung der Sparer“. Denn Bankeinlagen und kurzfristige Anlagen in Anleihen werden aktuell real so verzinst wie früher auch – etwas um die null Prozent.

Dies ist aus Sicht der Kapitalmarktforschung nur logisch:

Rendite ist primär die Kompensation für das eingegange Risiko. Wo kein erwartetes Risiko besteht, kann es im langfristigen Zeitablauf auch keine positive reale Rendite geben - jedenfalls dann nicht, wenn man Inflation, Kosten und Risiko berücksichtigt.

Denn warum sollte der Markt jemandem eine Belohnung zahlen, der kein Risiko trägt?

 

2. Die falsche Antwort auf niedrige nominale Zinsen

Berater und Anleger, die diesen fundamentalen Rendite-/Risikozusammenhang oder den Unterschied zwischen nominalen und realen Zinsen nicht verstehen, neigen dazu, risikolose kurzfristige Anlagen in Anlagen mit höheren Renditeversprechen zu tauschen:

  • Insbesondere Unternehmensanleihen und andere höher verzinsliche Anlagen stehen dabei hoch im Kurs. Sind diese Anlagen sinnvoll? Unternehmensanleihen eignen sich nur vordergründig zur Geldanlage. Denn, wenn es wirklich wichtig ist, wie in der Großen Finanzkrise 2008/2009 (GFC), erwiesen sich Unternehmensanleihen als „Schönwetteranlagen“.(12) Schuldner mit eingeschränkter Kreditwürdigkeit müssen auf den risikolosen Zins einen Aufschlag zahlen. Dieser Risikoaufschlag wird als Bonitätsprämie bezeichnet. Bonitätsprämien sind jedoch nicht mit Zinsen zu verwechseln, sondern eher als Versicherungsgebühr für das Ausfallrisiko zu verstehen. Die Finanzgeschichte zeigt, dass Bonitätsprämien ein ungünstiges Rendite-/Risikoprofil aufweisen.(13)
  • Anleger die ihre sicheren Anlagen in längerlaufende Anleihen tauschen, erhalten gewöhnlich ein paar Zehntel mehr Verzinsung, was als Laufzeitprämie bezeichnet wird. Im Gegenzug tauschen diese Anleger Sicherheit gegen ein höheres Kursrisiko ein. Denn je länger die Laufzeit, desto höher der Kursverlust der Anleihen, wenn die Kapitalmarktzinsen ansteigen. Laufzeitprämien weisen ebenfalls historisch ein ungünstiges Rendite-/Risikoprofil auf.(14)

Die Umwandlung des Sicherheitsankers aus risikolosen kurzfristigen Anlagen in eine risikoreichere Portfoliokomponente ist ein gefährlicher und falscher Schritt. Nicht ohne Grund weist unsere Vermögensverwaltung in der gesetzlich vorgeschriebenen Geeignetheitsprüfung für Finanzinstrumente auf die elementaren und sich widersprechenden Zusammenhänge des magischen Dreiecks der Geldanlage aus Sicherheit, Rentabilität und Liquidität hin: Es ist nicht möglich, alle Ziele gleichzeitig zu erreichen!

Dennoch versuchen Anleger der Magie dieser Zusammenhänge zu entkommen und lassen sich in unangemessene Produkte und schlechte Portfoliostrukturen verleiten.

 

3. Die richtige Antwort auf niedrige nominale Zinsen

3.1 Vernünftige Anleger klagen nicht über niedrige nominale Einlagezinsen!

Vernünftige Anleger erkennen, dass erwartete positive Renditen nichts anderes als ein Ausgleich für das Eingehen von Risiken sind:

Wo kein erwartetes Risiko besteht, wird auch die erwartete reale Rendite null sein.

3.2 Teilen Sie Ihr Portfolio in zwei sehr unterschiedliche Bausteine auf!

Ein gutes Wertpapierportfolio entsteht aus einem vernünftigen Zusammenspiel offensiver und defensiver Bausteine. Deshalb sind die einzelnen Bausteine eines Portfolios - Aktien und Anleihen - nicht isoliert, sondern immer auf ihre Kombinationsfähigkeiten im Portfoliozusammenhang zu betrachten:

Kurzfristige Bankeinlagen innerhalb der staatlichen Garantiegrenzen und kurzfristige Staatsanleihen in der jeweils heimischen Währung des Anlegers besitzen kein Ausfallrisiko.(15) Die erwarten realen Renditen werden deshalb gering sein - aber auch das Schwankungsrisiko. Gerade deshalb ist diese Anlageklasse als defensiver Baustein eines Wertpapierportfolios und Stoßdämpfer der Schwankungen des Aktienanteils hervorragend geeignet. Als Torwart eines Portfolios übernimmt dieser defensive Baustein nicht die Aufgabe, Tore zu schießen, sondern das Tor zu sichern.

Tore sollten die Stürmer schießen:

Aktienrenditen schwanken heftig. Das erwartete Risiko ist hoch. Als Ausgleich für die Inkaufnahme dieses Risikos sollten Anleger eine positive reale Rendite aus dem Aktienanteil eines Portfolios erwarten.

3.3 Spielen Sie mit Torwart und Stürmer!

Auch für einen defensiven Anleger ist es durchaus sinnvoll, mit einer geringen Aktienquote seine Renditeerwartung zu erhöhen. Quoten zwischen 15% bis 25% verbessern ab einem Anlagehorizont von drei Jahren das Rendite–/Risikoprofil. Ob unsere Mandanten die objektive Risikotragfähigkeit (das Können und Brauchen) und die subjektive Risikobereitschaft (das Wollen) für eine höhere Aktienquote besitzen, erarbeiten wir in einer risikoorientierten Finanzplanung.

Aussagen wie „Anlagenotstand: Sparer in der Zwickmühle“, „Enteignung der Sparer“ oder „In der Finanzwelt stimmt etwas nicht“ entbehren der fachlichen Begründung. Sie sind grober Unfug.

Denn Lewandowski und Müller sollten, aber Neuer muss keine Tore erzielen!

 

Literaturhinweise:

(1) Die erste Bundesanleihe am Start: Zeit Online Archiv, 27.11.1952, Abruf 20.06.2016

(2) Steltzner, Holger: Anlagenotstand – Sparer in der Zwickmühle, FAZ, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/anlagenotstand-sparer-in-der-zwickmuehle-13531516.html, Abruf am 20.06.2016

(3) Fahrenschon, Georg, zitiert in: Sparkassen-Chef verschärft Kritik an EZB, Handelsblatt, http://www.handelsblatt.com/unternehmen/banken-versicherungen/kurz-vor-der-zinsentscheidung-sparkassen-chef-verschaerft-kritik-an-ezb/9988764.html, Abruf 20.06.2016

(4) Freiberger, Harald/Zydra, Markus: In der Finanzwelt stimmt etwas nicht, Süddeutsche Zeitung, S. 19, 15.06.2016

(5) Geldvermögensbildung und Außenfinanzierung in Deutschland im zweiten Quartal 2019, Deutsche Bundesbank, Pressenotiz, 11.10.2019

(6) Das Spar- und Anlageverhalten privater Haushalte in Deutschland: Deutsche Bundesbank; Monatsbericht, Oktober 2015, S. 21

(7) Das Spar- und Anlageverhalten privater Haushalte in Deutschland: Deutsche Bundesbank; Monatsbericht, Oktober 2015, S. 13

(8) Deutsche Bundesbank: Effektivzinssätze Banken DE / Neugeschäft / Einlagen privater Haushalte, vereinbarte Kündigungsfrist bis 3 Monate: Verwendung ab 2003-01 (BBK01.SUD105 vorher BBK01.SU0527 (ab 1996) und BBK01.SU0022 (ab 1967))

(9) Negative reale Verzinsung von Einlagen kein neues Phänomen: Deutschen Bundesbank,, 27.06.2014, Bundesbank Einlagenverzinsung

(10) http://bpp.mit.edu/

(11) Jordá, Oscar/ Knoll, Katharina/ Kuvshinov, Dmitry/ Schularick, Moritz/ Taylor, Alan M.: The rate of return on everything, 1870 - 2015, CEPR, Discussion Papers Series, 2017, S. 15

(12) Unternehmensanleihen sind hybride Anlagen. In Schönwetterzeiten tritt ihr Anleihen-, in Schlechtwetterzeiten ihr Aktiencharakter in den Vordergrund. Da Anlagen immer auf ihre Kombinationsfähigkeiten im Portfoliozusammenhang zu beurteilen sind, eignen sich Unternehmensanleihen nicht als Risikodämpfer eines Portfolios.

Folgendes Schaubild zeigt einen höhere Gleichlauf von Unternehmensanleihen mit Aktien zur Zeit der Großen Finanzkrise. Unternehmensanleihen fielen im Kurs parallel zu Aktien. Dagegen stiegen deutsche Staatsanleihen beim Fallen der Aktienkurse (negative Korrelation):

 

 

(13) Ang, Andrew: Asset Management - A systematic Approach to Factor Investing, Oxford University Press, Oxford, New York, 2014, S. 295 ff.

(14) Ang, Andrew: Asset Management - A systematic Approach to Factor Investing, Oxford University Press, Oxford, New York, 2014, S. 284 ff.

(15) Wir unterscheiden zwischen finanziellen und realen Ausfallrisiken:

Kein finanzielles Ausfallrisiko besitzen Staatsanleihen von Staaten, die nur in ihrer eigenen Währung verschuldet sind, keine Einlöseverpflichtung in Gold oder sonstige Gegenstände erfüllen müssen und eine eigene Notenbank besitzen (notenbanksouveräne Staaten). Letzte Anforderungen gelten seit 1999 grundsätzlich nicht mehr für die Bundesrepublik Deutschland. Diese Einschränkung wird durch die Beistandsverpflichtung der EZB als „lender of last resort“ im Rahmen der im Mai 2010 aufgelegten „Securities Markets Programme“, der „Outright Monetary Programme“ vom September 2012 und dem "Asset Purchase Programme" (APP) seit Anfang 2015, zu dem unter anderem das "Public Sector Purchase Programme" (PSPP) ovm März 2015 zählt, geheilt (siehe: Makroskop, Magazin für Wirtschaftspolitik, Herbst/Winter 2019, 26).

Ein reales Ausfallrisiko aus Desasterrisiken, wie Naturkatastrophen, Krieg, Enteignung, die das gesamtwirtschaftliche reale Produktionspotential eines Staates vernichten, bleibt bestehen.

 

Datum der ersten Veröffentlichung: 22.06.2016; 19:30h

Datum der Aktualisierung: 09.01.2020

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